IHN aufnehmen
1. In einer ungewohnten Art und Weise sind wir heute zur Feier der Geburt unseres Herrn Jesus Christus zusammengekommen. Aber: Unerwartete Umstände sind eigentlich eine weihnachtliche Urerfahrung der Christenheit: Gott kommt - meist - anders, als wir denken. Ja: "Weihnachten 2020 wird anders, anstrengend und außerordentlich schön"[1], habe ich auf einer Homepage vor einigen Wochen gelesen. Hier wurden und werden Ideen vorgestellt, wie Weihnachten unter den gegenwärtigen Umständen gefeiert werden kann. Ich meine: Diese Schönheit von Weihnachten zu erkennen, könnte uns heuer wohl besser gelingen als die Jahre herauf, in denen alles "normal" war.
2. Bei näherer Betrachtung muss freilich gesagt werden, dass ein Aspekt des Johannes-Prologs, den wir soeben vernommen haben, gerade heuer vielleicht anders klingt als in den normalen Jahren. "Er war in der Welt und die Welt ist durch ihn geworden, aber die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf." Ich hoffe, dass wir heuer angesichts all der Konzentration auf das Wesentliche, das uns abverlangt wurde und wird, auch in der Feier der Weihnacht dies als Herausforderung sehen und nicht dem eben zitierten Wort entsprechen.
3. Nehmen wir IHN, bitte, auf - in all den Freuden und Hoffnungen, der Trauer und der Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art[2]! Dann ist Weihnachten nicht nur Fest, sondern dann wird ER, der Herr der Welt, auch in uns geboren und damit in der Welt des Jahres 2020. Es gibt Unzählige nah und fern, in denen ER uns entgegentritt:
- es sind die, die ohne Arbeit sind genauso wie jene, die derzeit keine Arbeit geben können und somit auch um ihre Existenz fürchten;
- es sind die, die unter der Überbelastung von Monaten in den Krankenhäusern und Intensivstationen sowie in den Pflegeheimen, bei der Post und anderen Dienstleistern, in der Seelsorge und der Polizei wie auch den anderen Einsatzorganisationen sowie den diversen Krisenstäben und Gesundheitsbehörden des Landes stöhnen;
- es sind die, die zu Hause alles unter einen Hut bringen müssen: das Miteinander in der Familie, so manche schulische Aufgabe wie auch die berufliche Tätigkeit;
- es sind jene, die angesichts so vieler Unwägbarkeiten und Unsicherheiten nicht aus und ein wissen;
- es sind Menschen, die angesichts ihrer schweren Erkrankung sich nach Zuwendung und Linderung sehnen;
- es sind jene, die ihrem Unmut und so mancher Verunsicherung Ausdruck verleihen genauso wie jene, die an der Welt und sich selbst zu verzweifeln drohen und all dies auch in ihren Worten entsprechend in den sogenannten sozialen Medien, mitunter auch im persönlichen Kontakt lauthals und mitunter auch ohne die Achtung der Würde anderer zum Ausdruck bringen;
- es sind jene, die aus irgendeinem Grund sich auf den Weg in eine bessere Welt meinten machen zu sollen und nun vielleicht unter elenden Bedingungen in einem Lager an den Toren Europas oder wo auch immer ihr Dasein fristen müssen;
- es sind jene, die unter Hunger leiden oder aufgrund einer Naturkatastrophe um das nackte Überleben in einigen Teilen der Welt zu kämpfen haben;
- es sind jene, die um ihres Glaubens willen als Christen, als Juden, als Moslems, als religiöse Minderheit irgendwo auf der Welt verfolgt, entführt, gedemütigt oder getötet werden;
- es sind viele, die in kriegerische Machenschaften verwickelt werden;
- es sind jene, denen Hoffnung und Zuversicht unter den Fingern zu zerrinnen droht;
- ...
In all diesen Menschen kommt ER zu uns. Und wir können und dürfen IHN aufnehmen, IHN einlassen in unser Leben - wie auch immer dies möglich ist. Das kann dann freilich auch heißen, dass wir uns immer neu zu IHM hin-, also bekehren müssen: sich Fehler einzugestehen und neu zu beginnen ist wohl auch eine Art, wie ER uns im Heute entgegenkommt.
Das Angedeutete wahrzunehmen und dem entsprechend zu leben ist alles andere als "Symbolpolitik": es ist der Beitrag, der uns in unseren Möglichkeiten abverlangt wird, wenn wir uns in der Nachfolge Jesu Christi wissen. Dies ist auch mehr als bloße "Gesinnungsethik", gegen die Verantwortung mitunter ausgespielt wird: Es ist schlicht ein Ernstnehmen dessen, dass der Herr um Aufnahme bittet unter vielgestaltigen Gesichtern.
Dem zu entsprechen gilt für uns als Einzelne, das gilt aber auch für uns als Gesellschaft, als Kirche. Ich weiß: Für alle möglichen Fragestellungen, die ich hier gestellt habe, gibt es viel Bereitschaft, Abhilfe zu schaffen. Ich weiß auch darum, dass es berechtigtes Fragen und Nachhaken gibt. Dennoch ist es wichtig und notwendig, gemeinsam an einem Strang und in dieselbe Richtung zu ziehen. Populismus und das in den letzten Monaten da wie dort erneut aufkeimende und lauthals vorgetragene "Justament bin ich anderer Meinung" leisten hierzu keinen Beitrag, der in die Zukunft führt.
4. "Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben", hat es gleich danach im Evangelium des Weihnachtstages geheißen: Wir wissen heuer wohl intensiver, was uns im Glauben anvertraut ist: Es gilt, das Leben in der Welt anzusagen - und nicht den Untergang; das Leben zu begleiten, zu schützen und nicht einfach ad acta zu legen. Es gilt, dem Leben des Lebendigen mitten unter uns mehr Raum zu geben, indem wir einander so begegnen, wie der zu Betlehem Geborene, am Kreuz Gestorbene und auf ewig Lebendige den Seinen damals auf Erden begegnet ist.
1. Lesung: Jes 52,7–10;
2. Lesung: Hebr 1,1–6;
Evangelium: Joh 1,1–18
[2] vgl. Gaudium et spes 1.