Sind wir Sehende?
Der vierte Sonntag in der österlichen Bußzeit hat von alters her mit seinem Namen LAETARE – d.h. „Freue dich, Stadt Jerusalem!“ - einen eigenen Charakter:
- Die Büßer sind zur Freude aufgerufen: ihre Zeit der strengen Bußleistungen hat bald ein Ende, weil ihnen am Gründonnerstag die Absolution erteilt wird.
- In den Katechumenen sollte die Vorfreude auf ihre Wiedergeburt in der Taufe geweckt werden.
- Wir alle sind gemeint: Jeder Sonntag ist ja ein Gedächtnis der Auferstehung; und die Nähe zum Osterfest soll in uns die Gnade des Lebens mit Christus, die Hoffnung auf unsere Auferstehung erneuern.
Darum wird uns heute, in der Mitte der Fastenzeit, zugerufen: „Freue dich!“, „Wach auf, steh auf von den Toten, und Christus wird dein Licht sein!“
- Das Evangelium von der Heilung des Blindgeborenen hatte schon zu der Zeit, da es vom Evangelisten Johannes niedergeschrieben worden ist, also am Ausgang des 1. Jahrhunderts, seinen Platz in der Taufkatechese; die Exegeten sprechen vom „Sitz im Leben“ der Urkirche.[1]
Was geschieht in der Taufe? Was wird uns durch die Taufe zuteil? Was haben wir, die wir schon getauft sind, davon in unserem Leben als Christen erst noch einzuholen? Das antike Wort des Dichters Pindar (um 522-446 vor Christus), das auch Friedrich Nietzsche aufgegriffen hat, wäre von uns im Hinblick auf unsere Taufe ernst zu nehmen: „Werde, der/was du bist!“
Wenn wir einmal eine Taufe bewusst mitgefeiert haben, können wir uns daran erinnern, dass nach der Taufe der Taufspender dem Neugetauften das Wort sagt: „Effata! Das heißt: Tu dich auf!...“ Dabei berührt er Ohren und Mund. Das heutige Evangelium sieht in der Taufe darüber hinaus auch die Eröffnung eines neuen Sehens, einer neuen Erkenntnis, einer neuen Perspektive: deshalb wird die Taufe auch als „photismos“ - „Erleuchtung“ - (2 Kor 4,6) verstanden.
- Die Taufe lässt uns mit Augen des Glaubens Gott neu erkennen: „in ihm leben, bewegen wir uns und sind wir“ (Apg 17,28a).
- Die Taufe ermöglicht auch eine neue Selbsterkenntnis. Das Konzil hat dafür das schöne Wort gefunden: „Christus macht dem Menschen den Menschen kund“ (GS 22). In der Lesung aus dem Epheserbrief haben wir heute gehört: „Einst wart ihr Finsternis, jetzt aber sei ihr Licht im Herrn!“
- Und die Taufe öffnet unsere Augen für die anderen Gläubigen, die mit uns Glieder am Leibe Christi sind: Sie sind unsere Schwestern und Brüder.
- In diesem Evangelium sind wir also mehrfach mitgemeint:
Der Blindgeborene, der durch Jesus sein Augenlicht gewonnen hat, hat seine Heilung als reine Gnade empfangen. Die Gnade Gottes kommt uns zuvor. Auch wir – jedenfalls die meisten von uns – sind als Kinder und damit zunächst ohne unsere Zustimmung mit der Gnade der Taufe beschenkt worden. Der zweite Schritt, der in diesem Evangelium geschildert ist, nämlich dass der Geheilte Christus bewusst als den von Gott gesandten Menschensohn erkennt und bekennt, ist von sehr vielen von uns erst noch nachzuvollziehen.
Gemeint ist einmal das bessere Kennenlernen unseres Glaubensbekenntnisses – auch das ist nötig, denn es gibt eine weit verbreitete Unfähigkeit vieler Getaufter, über ihren Glauben Auskunft zu geben und das Christsein von anderen Weltanschauungen, religiösen oder quasireligiösen Lebensmodellen unterscheiden zu können.
Unverzichtbar ist aber vorerst, dass man aus dem Leben von Christen erfahren kann, dass sie mit Gott und Christus verbunden sind. Denn wir sind immer auch Mit-Glaubende! Das ist natürlich eine Anfrage an uns Christen: Kann jemand, der den Glauben und das Christsein kennenlernen will, aus unserem Alltag, unserem Denken, Reden und Tun etwas von unserer Verbundenheit mit Gott, mit Christus, von unserem Leben aus dem Geist Gottes erahnen?
- Wenn wir ehrlich sind, werden wir uns unter dieser Gewissensfrage in diesem Evangelium leider auch in den Pharisäern abgebildet entdecken: sie erweisen sich als die Eigentlich-Nichtsehenden.
Das Evangelium stellt uns mit der Schilderung der Gegner Jesu einen Spiegel vor Augen: Sind wir Sehende oder in unserem Kleinglauben und unserer Voreingenommenheit noch von Blindheit geschlagen? Die Schlussworte der Lesung aus dem Epheserbrief – wahrscheinlich ein Vers aus der urchristlichen Taufliturgie – sind an uns Christen gerichtet: wir sind gemeint, wenn hier gesagt wird:
„Wach auf, du Schläfer,
und steh auf von den Toten,
und Christus wird dein Licht sein!“
Die Liturgie der Taufe ist auch für die Gemeinde, in die ein Kind oder ein erwachsener Mensch durch das Sakrament aufgenommen wird, eine Gelegenheit, zu erfahren oder wiederzuentdecken, welches Geschenk uns in der Taufe gegeben ist: dafür stehen die Zeichen der Taufkerze, das Taufkleid, die Salbung mit dem Chrisam und eben auch das „Effata! – Tu dich auf!“ – Der Geist Gottes öffnet uns, damit wir mit allen unseren Kräften Jesus Christus begegnen: „Ihr seid Licht im Herrn. Lebt als Kinder des Lichtes!“
Amen.
[1] Vgl. „Sitz im Leben“: Art. LThK III³,1995, Sp.1353-1357; Wikipedia „Sitz im Leben“, Begriff vom Exegeten Hermann Gunkel geprägt;