Von der Zukunft aus ins Heute blicken
1. Man kann sich Übergängen mit zwei Blickwinkeln nähern. Der eine ist der Blick zurück. Er ist wichtig, um sich zu vergewissern, woher man kommt, aus welcher Geschichte man schöpft, wie es zu dieser oder jener Situation gekommen ist. Und tatsächlich: Ohne den Blick in die Geschichte läuft man Gefahr, in der Gegenwart herumzuirren, anstatt aus der Erfahrung zu schöpfen. Freilich - der "Blick zurück" kann auch von bloßer Verklärung geprägt sein: Das, was war, solle bleiben. - Wir hingegen stehen an einem Übergang, den uns der Kalender jedes Jahr anzeigt.
2. Mit der eben verkündeten Bibelstelle will ich heute die zweite Möglichkeit in den Blick nehmen, die sich bei allen Übergängen stellt: Es ist der Blick aufs Heute von der Zukunft her. Dieser begegnet uns in der Offenbarung, dem letzten Buch der Bibel des Neuen Bundes. Wir wissen um so vieles im Kleinen wie im Großen der Welt, das uns im zu Ende gehenden Jahr bedrückt und gelähmt hat. Bliebe nur das im Blick, es würde die Welt als eine prägen, die dem bloßen Nieder- bzw. Untergang geweiht ist. Ähnliches könnten wir auch von unserer Kirche sagen.
Das Bild des himmlischen Jerusalem hingegen – der Blick aus der ewigen Zukunft - lässt uns so manches im Heute anders interpretieren. Wenn wir wirklich von dieser Zukunft, die Leben in der Gegenwart Gottes bedeutet, geprägt sind, dann können wir gar nicht anders, als von Hoffnung zu sprechen und damit von einer mit Leidenschaft und Zuversicht akzeptierten Krise, in der wir leben[1]. Andrea Riccardi, der Gründer der Gemeinschaft Sant' Egidio, die sich in den letzten Jahrzehnten neben ihrem aus dem Evangelium geprägten Engagement für die Armen auch in manchen Friedensbemühungen weltweit bewährt hat, ist in seiner Profession Historiker. Er beleuchtet immer wieder zeitgeschichtliche Entwicklungen in der Kirche. In seinem Buch "Die Kirche brennt" meint er etwa: "Die Einstellung der Gläubigen und der Kirche darf nicht am Jetzt kleben: Das hieße, in eine Vergangenheit zurückzublicken, von der man meint, dass sie besser war. [...] Für ein Christentum mit einer zweitausendjährigen Geschichte mag es verlockend sein, sich an vergangene Tage zu erinnern - doch es muss sich auf die Zukunft hin ausrichten. [...] Das Christentum ist nicht so sehr eine Institution, die es weitmöglichst zu erhalten gilt, sondern vor allem ein Stück unserer Zukunft."
3. Diese Zukunft wird uns in der Offenbarung des Johannes eindrücklich geschildert. Wir leben mit Gott - es gibt keinen Tempel mehr in der himmlischen und neuen Stadt Jerusalem. Dieses Ewige greift aber schon seit der Auferstehung Jesu ein ins Heute. Wie kommen wir an dieses ewige Ziel? Indem wir mit Christus in unserer Mitte leben. Die Synode, deren Weltversammlung im kommenden Jahr weitergehen wird, macht es genauso deutlich wie jene Orte, an denen vielfach unter der Wahrnehmungsschwelle Leben geteilt wird mit jenen, die es nötig haben. - Und mehr noch: mit einem solchen nach vorn und nach "oben" orientierten Lebensstil leisten wir in einer Gesellschaft, die durch vieles niedergedrückt wird, einen Beitrag des Lebens. Wir leisten einen Beitrag zu einem lebendigen und zukunftsgewandten, gemeinsamen Voranschreiten jenseits des Jammerns, jenseits dessen, was uns auseinander zu treiben versucht. Gehen wir also mit dem unverwandten Blick auf Christus, der uns im Heute entgegenkommt, hinein in das neue Jahr! Damit er mit uns ist und uns durch dick und dünn begleiten kann.
[1] Vgl. zum Folgenden: Gedanken aus dem letzten Kapitel von Andrea Riccardi, Die Kirche brennt, Würzburg 2023, 274ff.
Lesung: Offb 21,10–14.22–23