Warum?
1. Wir wissen, wie das Leben Jesu endet - mit einem fulminanten Einzug in Jerusalem - und wenige Tage später mit den Worten: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" (Mk 15,34): Gottes Sohn, Mensch wie wir, schreit dies gen Himmel.
2. So wie wir von der jubelnden Menge beim Einzug in Jerusalem gehört haben, vernehmen wir seinen Schrei der letzten Einsamkeit. Damit wird deutlich: Was wir jetzt in diesem Augenblick begehen, ist nicht bloß "fromme Erinnerung" an ein Ereignis. Es betrifft mich, ja uns - ganz persönlich. Das Gehörte, das Verkündete hat etwas mit mir und meinem Menschsein zu tun, weil wir von Jesus wissen: Er hat uns geliebt bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz (vgl. Phil 2,8). Ja: "Er hat das für mich getan [...], damit es eine Hoffnung gibt, wenn ich [..] oder irgendjemand anders erlebt, dass er mit dem Rücken zur Wand steht, dass er sich in einer Sackgasse verirrt hat, dass er in den Abgrund der Verlassenheit gestürzt ist oder in den Strudel der vielen unbeantworteten Fragen nach dem 'Warum' hineingezogen wurde. Er - für dich, für mich. Es ist nicht das Ende, denn Jesus ist dort gewesen und jetzt ist er bei dir: Er, der die Ferne der Verlassenheit erlitten hat, um in seiner Liebe all unser Fernsein aufzunehmen. Damit jeder von uns sagen kann: In meinem Hinfallen [...], in meiner Verzweiflung, wenn ich mich verraten fühle oder andere verraten habe, wenn ich mich verstoßen fühle oder andere verstoßen habe, wenn ich mich verlassen fühle oder andere verlassen habe: [...] dort finden wir ihn. Wenn ich mich verirrt und verloren fühle, wenn meine Kräfte versagen, ist er mit mir; in meinen vielen unbeantworteten Fragen nach dem „Warum“ ist er da." [1]
3. So wie er da war für die Menschen in ihren freudigen Situationen, so wie er da war für die Menschen, die sich nach Heilung gesehnt haben; so wie er da war da für all jene, die nach Halt und Orientierung suchen - in Freud und Leid. Von diesem Gott reden wir in unserem Glauben. Und ihn anzuerkennen in meinem Leben ist demnach etwas ganz und gar Menschliches, weil er bis zu seinem letzten Atemzug ganz Mensch war und alle unsere Erfahrungen kennt. Weil wir um seine persönliche Liebe wissen und davon heute, in dieser Heiligen Woche und Sonntag für Sonntag hören, kennen wir die Einladung, unser Menschsein in unserer Welt voller Herausforderungen IHM entsprechend liebend zu gestalten: "Der verlassene Christus bewegt uns dazu, ihn in den Verlassenen zu suchen und zu lieben. Denn bei ihnen handelt es sich nicht allein um Bedürftige, sondern auch um ihn, den verlassenen Jesus, denjenigen, der uns gerettet hat, indem er bis in die Tiefen unseres Menschseins hinabgestiegen ist. Er ist bei einem jeden von ihnen, verlassen bis zum Tod. [...] Er möchte, dass wir uns um die Brüder und Schwestern kümmern, die ihm in seinem extremen Schmerz und in seiner Einsamkeit am ähnlichsten sind. Heute [...] gibt es so manchen 'verlassenen Christus'. Es gibt ganze Völker, die ausgebeutet und sich selbst überlassen werden; [...] es gibt Migranten, die keine Personen mehr sind, sondern Nummern; es gibt abgewiesene Gefangene, Menschen, die als Problem katalogisiert werden [...] [;] ungeborene Kinder, ältere Menschen, die allein gelassen werden [...], Kranke, die nicht besucht werden, Behinderte, die ignoriert werden, junge Menschen, die eine große Leere in sich verspüren, ohne dass jemand wirklich ihren Schmerzensschrei hört."[2] Er ist der Obdachlose, der angezündet wird, genauso wie er einer von den Vielen ist, die nach Leben schreien angesichts von Terror, Krieg und Verfolgung. "Der verlassene Jesus fordert uns auf, Augen und ein Herz für die Verlassenen zu haben."[3] Wenn wir unser Herz für die Verlassenen öffnen, dann kann Ostern werden, weil wir der Welt und den Menschen neues Leben einhauchen. Weil wir unser Christsein getragen von seiner Liebe leben. Weil wir Christus nachfolgend leben. Dann ist Ostern.
[1] Vgl. zu diesem Gedanken auch die Homilie von Papst Franziskus am Palmsonntag 2023
[2] Ebd.
[2] Ebd.