Leben, wie er gelebt hat
Uns ist dieser Tag geschenkt. "Heute" im wahrsten Sinn des Wortes sind wir beim Letzten Abendmahl dabei. Dies ernstgenommen bedeutet weit mehr als nur zu Gedenken. Es bedeutet Verinnerlichung, es bedeutet Erleben. Wenn wir heute in der Feier der Eucharistie im Hochgebet die Worte hören, das dieses Ereignis "heute" ist, wird das Letzte Abendmahl, wird das, was wir in der gesamten christlichen Welt morgen als Karfreitag begehen, zu meiner persönlichen Erfahrung. Sein Leben schenkt ER hin - nicht nur damals, sondern auch heute, wenn wir vortreten und Leib und Blut Christi empfangen. Wir verbinden uns in der Feier der Eucharistie mit seinem Leben und halten damit auf die innigste uns mögliche Art und Weise communio, Gemeinschaft mit Jesus, auf den wir alle unsere Hoffnungen setzen.
Dies zu leben ist unsere Aufgabe. Darin besteht das "Gedächtnis", das wir "tun" sollen, wie es uns im Hochgebet in Erinnerung gerufen wird. Leben wir, wie er gelebt hat! Das ist das Glaubensbekenntnis, das mit dieser Feier heute abgelegt wird und das durch das Zeichen der Fußwaschung nochmals bekräftigt wird. Durch jenen Akt, durch den die Liebe Jesu zu den Seinen durchscheint, wenn der Herr zum Diener wird. Diese Liebe ist Maß für alle, die durch Wasser und Geist hineingenommen sind in das Volk Gottes. Diese Liebe wird das Maß bleiben die Zeiten hindurch. Trotz aller Vergesslichkeit, trotz allem Widerstand, trotz all der Sünde, die sich in uns Menschen da und dort, auch heute, auftut.
Wo ist nun die Liebe, die Gott ist, wenn wir auf den zerrissenen Mantel der Christenheit schauen? - Erst jüngst wurde mir dies aufs Neue schmerzlich bewusst, als ich mit Bischöfen verschiedenster Kirchen versammelt war und wir uns versprochen haben, jene Liebe unter uns zu leben, die Jesus ausgezeichnet hat, für den wir in unserem Dienst einstehen.
Wo ist die Liebe, die Gott ist, wenn ich an so manche Äußerungen denke, die aufgrund verschiedenster Vorgänge in Kirche und Gesellschaft von der einen der anderen Seite vorgebracht werden? Es ist gar nicht so einfach, zwischen unterschiedlichen Positionen so zu vermitteln, dass die Mitte, die Gott ist, präsent sein kann. Die Mitte als Brennpunkt der Wahrheit, in der der Herr, der Auferstandene, der Lebendige auf uns wartet. Da haben wir alle als Getaufte zu lernen.
Wo ist die Liebe, die Gott ist, wenn ich an die Kriegsschauplätze dieser Welt denke, oder gar an jene gewaltsamen Auseinandersetzungen, bei denen die Christen auf Christen feuern? - Vom Frieden zu reden ist einfach. Den Frieden als jenen göttlichen "shalom" zu leben, der ein gutes Leben für alle ermöglicht, die mir als Brüder und Schwestern unterschiedslos an die Seite gestellt sind, ist ein Kraftakt.
Wo ist die Liebe, die Gott ist, und die wir besingen, wenn viele nur auf sich bedacht sind und meinen, selbst der Nabel der Welt zu sein, damit aber all jene vergessen, die mit ihnen Gottes geliebte Kinder sind? - Der heutige Abend ist eine erneute Chance für uns, dies nicht nur zu bedenken. Am heutigen Abend sind wir mittendrin, wenn Jesus ausgeliefert wird und sich aus freiem Willem dem Leiden unterwirft, um uns alle zu erlösen. Wir feiern nicht distanziert, sondern gemeinsam folgen wir Jesus, nehmen wir einander als Christin, als Christ an, bitten wir um Verzeihung und vergeben einander, werden wir Dienerinnen und Diener und nehmen Dienste an, werden wir eins in Christus. So kann Ostern kommen.